Mit der Hilflosigkeit sitzen


Diesen Artikel habe ich erstmals im November 2013 veröffentlicht. Über die Jahre ist er einer der meistgelesenen Beiträge meiner Website geworden. Hier veröffentliche ich ihn in der aktualisierten Version.

hand_tempel_mitte_detail_kleinEine Freundin hat ihr Baby in der 14. Schwangerschaftswoche verloren.

Eine Freundin steht mit ihrem Sohn vor einer Delogierung und hat keine Wohnung in Aussicht.

Eine Freundin hat Metastasen im ganzen Körper.

Ein Freund weiß nicht, wie er seine Konkursraten bezahlen soll.

Zwei Freundinnen zerbricht das Herz, weil ihre Töchter von Essstörungen betroffen sind.

Eine Freundin ist ungeplant schwanger und überlegt eine Abtreibung.

Eine Freundin möchte vor der Menopause noch ein Kind empfangen.

Dies sind nur die intensivsten Dinge, die mich aktuell in den letzten Wochen beschäftigen. In dieser Liste sind die alltäglichen Dinge wie kleinere Krankheiten der Kinder, Arbeitsüberlastung, Meinungsverschiedenheiten, organisatorische Herausforderungen etc. gar nicht aufgenommen.

Was in den letzten Wochen alles eingetreten ist, wäre über ein ganzes Jahr verteilt vielleicht zu verdauen – doch in so kurzer Zeit? Alles gleichzeitig?

In manchen Situationen können wir konkret oder theoretisch helfen. Und wir können die Situation mit Ratschlägen zuspitzen: „Du musst nur XY, dann…“ Oder – noch schlimmer – Schuldgefühle verstärken mit Sätzen wie „Ja, hättest du halt rechtzeitig…“ oder „Du hättest ja wissen können, dass …“(All das hab ich miterlebt in den letzten Wochen, das ist nicht erfunden.)

Solche Reaktionen sind für mich ein Zeichen von Hilflosigkeit… gerne helfen wollen, doch nicht können… aus welchem Grund auch immer. Doch statt sich mit der eigenen Hilflosigkeit auseinander zu setzen, wird die Schuld bei den Betroffenen gesucht, die etwas falsch gemacht haben, die etwas unterlassen haben, die doch „nur“ (!) dies und jenes machen müssten, um sich aus ihrer „Misere“ (!) zu befreien.

Seit Jahren beschäftige ich mich damit, wie wir mit der eigenen Hilflosigkeit umgehen können. Es beginnt für mich damit, sich das Gefühl bewusst zu machen und aufrichtig wahrzunehmen:

Ja, es stimmt, ich fühle mich hilflos.

 

20131118_dunkle_TempelmitteDer zweite Schritt ist, in diesem Gefühl zu bleiben und es nicht mit Ersatzhandlungen wegmachen zu wollen – mit der Hilflosigkeit sitzen – sie aushalten. Sie auf den Schoß nehmen. Sie umarmen. Sie nicht verurteilen, sondern willkommen heißen. Vielleicht öffnet sich alleine durchs Lesen schon dein Herzen?

Aus dieser Intimität mit der Hilflosigkeit entsteht eine gewisse Gelassenheit, aus der heraus Handlungen möglich werden:

  • Ich mache, was ich kann, um den lieben Menschen um mich herum beizustehen – wissend:
  • Ich kann ihnen den ganz konkreten Weg nicht abnehmen.
  • Ich kann meinen Beitrag leisten (der in jeder Situation anders aussieht).
  • Ich kann meine Vorstellungen von „richtigen“ und „falschen“ Wegen komplett zurücknehmen.
  • Ich kann die Betroffenen in ihren Entscheidungen bestärken.
  • Ich kann gegebenenfalls den Betroffenen erzählen, was ich in vergleichbaren Situationen gemacht habe und was meine Erfahrungen damit waren – um den Blick auf Möglichkeiten zu erweitern, nicht um auf einen konkreten Ratschlag zu fokussieren!
  • Ich kann ihnen meine Liebe und mein Mitgefühl schenken.
  • Ich kann ihnen meine Präsenz (nicht notwendigerweise körperlich) schenken.

Was passiert auf diese Weise? Der Raum der Möglichkeiten wird größer, offener, freier. Das ist ein Geschenk, das wir Menschen in Turbulenzen machen können: diesen Raum für die ureigene Entwicklung offen zu halten. Ohne „den richtigen Weg“ zu kennen. Ohne eine Lösung parat zu haben.  Präsent. Voller Vertrauen. In der Zuversicht. Mit einem offenen Herzen. In Liebe.

Wer mit der eigenen Hilflosigkeit ausgesöhnt ist, hat meistens die mystische Erfahrung gemacht, dass es eine größere Instanz gibt. Wir haben über den Tellerrand des eigenen Ichs geschaut … und die Unendlichkeit und die Weite wahrgenommen … verschwommen vielleicht, doch präsent und allumfassend. Eine der betroffenen Freundinnen hat es so beschrieben: Hinter den Sorgen nehme ich die liebevollen Augen der unendlichen Präsenz wahr.

When I’ve done all that I can
And I try to do my part
Let sorrow be the doorway
Into an open heart

Mögen alle Wesen glücklich sein.
Mögen alle Wesen in Sicherheit sein.
Mögen alle Wesen überall frei sein.

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